Stempelkarte
Es war ungefähr 8:30, als Kommissar Hedwig am Tatort ankam. Den Großteil der zu erledigenden Aufgaben hatten die Kollegen bereits hinter sich gebracht: Tatort abriegeln, Spurensicherung, erste Zeugen befragen. Gegen 6:50 wurde Hedwig aus dem Bett geklingelt. Mord in Moorhausen. Das klang für ihn wie ein ARD-Krimi. Oder ZDF. Mord in Moorhausen. Aber so war es eben manchmal. Raubüberfall in Rotenburg gab es zum Beispiel auch schon mal. Oder Fahrerflucht in der Neuen Vahr. Kann man sich eigentlich nicht ausdenken. Als Hedwig dann gegen 6:50 aus dem Bett geklingelt wurde und daran dachte, dass Mord in Moorhausen klingt wie ein ARD-Krimi oder halt ZDF, musste er erst noch duschen, Kaffee trinken und eine Zigarette auf dem Balkon rauchen. Vorher war er zu nichts zu gebrauchen, das wussten auch alle. Außerdem gab es in den ersten Stunden eh nichts zu tun, und tot würde das Opfer ja auch später noch sein.
Kommissar Hedwig war seit fast 20 Jahren bei der Kriminalpolizei. Erst in Bremen, dann in Niedersachsen. Er hatte sich versetzen lassen, weil er dachte, dass es außerhalb der Stadt ein wenig ruhiger zugehen würde. Viel ruhiger war es seitdem allerdings nicht. Hedwig war dennoch zufrieden mit seinem Wechsel. Immer wenn ein „alter Hase“ aus der Großstadt aufs Land kommt, macht das ganz schön Eindruck bei den neuen Kollegen. Hier konnte er die ganzen Geschichten und Anekdoten erzählen, die seinen Kollegen in Bremen schon zu den Ohren rauskamen. Und sollten die Geschichten seine neuen Kollegen irgendwann auch nerven, ist er alt genug für den Ruhestand. Vier Jahre musste er noch. Vier Jahre, dann ist Schluss. Es ist nicht so, dass Hedwig seinen Job nicht mochte. Aber wie bei allen Dingen, selbst die, die man furchtbar gerne macht, ist irgendwann einfach mal die Luft raus. Vier Jahre noch, dann ist endlich Schluss. Zeit für Hobbys, Familie, Reisen. Oder den Garten, den wollte er sowieso schon lange mal machen.
Auf dem Weg zum Tatort machte Hedwig das Radio an. Eigentlich eher ungewöhnlich, aber irgendwie war ihm heute danach. Im Radio lief „Iris“ von den Goo Goo Dolls. „Iris“ war einer dieser Songs, den man irgendwann einfach vergisst und wenn man ihn dann wieder hört, dann fällt man aus allen Wolken: Ach ja, den gibt es ja auch noch, irre, ewig nicht gehört, eigentlich nicht schlecht der Song, was die Band wohl heute macht? Hedwig musste daran denken, dass der Song schon über 20 Jahre alt ist. Damals ist er noch Streife gefahren und war Mitte 30. Dann musste er an seinen Partner im Streifenwagen denken, Kommissar Bohlmann. Der wäre inzwischen auch im Ruhestand gewesen, wäre da nicht diese Schießerei in Oslebshausen gewesen, schlimmes Ding damals, war überall in den Medien. Hedwig und Bohlmann waren fast durch gewesen mit der Schicht, da kam ein letzter Notruf rein, räuberische Erpressung bei der DEA-Tankstelle in Oslebshausen. Die beiden waren nicht weit weg und machten sich sofort auf den Weg. Bohlmann war etwas älter als Hedwig und hatte dementsprechend den Hut auf. Er war zuerst in die Tankstelle gestürmt und hatte sich dann drei oder vier Kugeln eingefangen. Wäre Hedwig damals als Erster gegangen, säße er jetzt vermutlich nicht mehr hier im Auto. Tragische Nummer war das damals. Irgendwie musste er lange nicht an Bohlmann denken. Bohlmann war wie der Song, irgendwann einfach vergessen und wenn man dann wieder an ihn dachte, fiel man aus allen Wolken. Zu den Gitarrenriffs der Goo Goo Dolls versuchte Hedwig, aus seinem Körper ein bisschen Trauer zu quetschen. Oder vielleicht eine Träne zu verdrücken. Wäre ja nur angemessen, wenn man an einen alten Weggefährten denkt, der einfach so niedergeschossen wurde. Aber keine Chance. Ein Leben voller Mord und Totschlag stumpft ab. Und die Tränen, die nicht kommen, kann man halt auch nicht wegdrücken. Sei es drum.
Es war also ungefähr 8:30, als Hedwig am Tatort ankam. Er parkte seinen Wagen in der Einfahrt und riss dabei fast das Absperrband weg. Kurzer Schnack mit den Kollegen. Platzwunde am Hinterkopf, vermutlich durch Schlag mit einem dumpfen Gegenstand, war aber ziemlich sicher nicht die Todesursache. Hämatome an den Armen deuten auf Rangelei hin. Todeszeitpunkt zwischen 1 und 3 Uhr nachts. Opfer trägt kein Handy bei sich, Brieftasche wurde bis auf eine Stempelkarte vom Metropol-Imbiss und eine MediaMarkt-Geschenkgutscheinkarte geleert. Opfer ist 42 Jahre alt, nicht verheiratet, keine Kinder.
Während Kommissar Hedwig durch das Wohnzimmer des Opfers schlurfte, blickte er immer wieder auf und ab und atmete dabei tief ein und noch tiefer aus. Er wiederholte dabei regelmäßig die Wortfetzen, die seine Kollegen ihm gerade mitgeteilt hatten: Stempelkarte. Rangelei. Hämatome. Dumpf. Stempelkarte.
Auf dem Tisch in der Ecke des Raumes lag eine Packung Rasierklingen. Direkt davor eine Klinge, an der minimale Blutspuren erkennbar waren. Es könnte auch Rost sein, in dem Licht war es schwer zu erkennen. Hedwig wühlte in seiner Jackentasche, nahm ein Papiertaschentuch heraus, griff nach der Klinge und steckte sie in eine kleine Plastiktüte. „Habt ihr das hier schon gesehen? Nein? Kontrolliert mal die DNA auf der Klinge.“ Von Schnittverletzungen hatte die Pathologie eigentlich nichts gesagt, aber man weiß ja nie. In 20 Jahren Kriminalpolizei hatte Hedwig schon mehr als einmal erlebt, dass jemand seine Arbeit nicht gründlich macht. Und wer muss es dann wieder ausbaden? Kommissar Hedwig, na klar.
Während das Opfer abtransportiert wurde, inspizierte Kommissar Hedwig weiter den Raum. Nichts in dieser Wohnung sah nach Mord aus. Wohnwand, Eckcouch, Glastisch. Was war hier nur passiert?
Hedwig schlurfte also wieder auf und ab und musste nochmal an die Rasierklingen denken. Nicht an die benutzte, die er der Spurensicherung in die Hand gedrückt hatte, sondern an den Karton auf dem Tisch mit den neuen, frischen Klingen. Wie viele da wohl drin waren? Besonders groß ist so eine Klinge ja nicht. In so einen kleinen Karton passen ja locker 100 … oder 200? Hedwig marschierte zurück zum Tisch und griff (diesmal ohne Taschentuch) nach dem Karton. 250 Klingen. Irre. 250 Klingen. An so viele hätte er nicht gedacht.
Kommissar Hedwig hatte zwar keinen besonders starken Bartwuchs, aber auch er musste sich ca. einmal pro Woche rasieren. So eine Rasierklinge würde wohl für fünf Rasuren reichen, dann müsste er die Klinge wechseln. Fünf Rasuren, also fünf Wochen, macht ungefähr elf Klingen im Jahr. Mit diesem Karton hier könnte Kommissar Hedwig sich also noch gute 22 Jahre rasieren. 22 Jahre. Er dachte nach. Das bedeutet, er bräuchte sich vielleicht nie wieder neue Rasierklingen zu kaufen. Vielleicht würde er die Packung auch gar nicht aufbrauchen. Vielleicht blieben welche übrig. Gott, wer weiß denn schon, wie alt man wird. Der eine wird 80, der andere nur 70, manche über 90. Kommissar Bohlmann nicht mal 50. Gut, aber der hatte auch gar keinen Bartwuchs. Kommissar Bohlmann war einer dieser Typen, die fast keine Körperbehaarung hatten. Weder an den Armen noch an den Beinen oder im Gesicht. Seine Beine hatte Hedwig zwar nie gesehen, aber er konnte sich vorstellen, dass sie ähnlich kahl wie seine Arme waren.
Er dachte weiter nach. Vielleicht würde er ja nur noch eine Packung Rasierklingen alt werden. Eine Packung, und dann ist Schluss. Er hielt die Packung in seinen Händen und drückte sie fest. Er konnte den Widerstand der Klingen im Inneren der Packung spüren.
Naja, aber was, wenn er sich ab sofort einfach jeden Tag rasieren würde? Oder zumindest jeden zweiten. Und die Klingen einfach bei jeder zweiten Rasur austauschen. Ist ja ohnehin hygienischer. Dann bräuchte er vielleicht doch noch mehr Klingen. Dann könnte er sich noch zwei oder drei weitere Kartons kaufen. Dann wäre nach dieser Packung noch nicht Schluss.
Oder er rasiert sich einfach gar nicht mehr. Dann müsste er überhaupt keine Rasierklingen mehr kaufen. Das Opfer hatte bestimmt auch nicht damit gerechnet, dass das seine letzte Packung Rasierklingen wäre. 42 Jahre alt war der Mann nur geworden. Genau wie Kommissar Bohlmann. Schlimm war das damals in Oslebshausen. War ja auch überall in den Medien.
Wieder versuchte Hedwig sich ein wenig Trauer abzuverlangen, aber es funktionierte nicht. Er drückte den Karton mit den Rasierklingen immer fester und fester. Bis er irgendwann die Klingen an seinen Fingern spüren konnte. Blut tropfte auf den Boden. Mit leerem Blick ließ Kommissar Hedwig den Karton auf den Tisch fallen. Stempelkarte. Rangelei. Hämatome. Dumpf. Vier Jahre noch, dann ist endlich Schluss.